K H  E b n e t  -  ü b e r//setzungen
 



                                
Friedrich Hölderlin,
Hyperion
                  
                                                             






ZUM AUTOR

Noch immer bestimmt das tradierte Hölderlin-Bild die Vorstellung: das Bild eines zarten, beinahe anämischen Jünglings, feinnervig, feinfühlig, blass. Hölderlin ist in der Tat ein schöner Mann, von gewinnendem Äußeren, einnehmendem Betragen, nicht ohne Eindruck auf die Frauen, darf man annehmen. Vor allem aber war jener "unverkennbare Ausdruck des Höheren in seinem ganzen Wesen", wie sich ein Mitschüler im Tübinger Stift an ihn erinnert. Wie ein Apoll sei er durch das Stift geschritten, berichtet Schwab, sein erster Biograph.

Doch so zart, wie es die landläufige Vorstellung haben will, ist Hölderlin nicht. 1,75 bis 1,80 Meter groß, breite Schultern, gut zu Fuß. Die meisten seiner Reisen hat er zu Fuß bewältigt. Vierzig bis fünfzig Kilometer am Tag, manchmal mehr, waren für ihn sein gewöhnliches Pensum. In der Ostervakanz 1791 unternimmt er zum Beispiel mit seinen Freunden Hiller und Memminger eine Reise in die Schweiz, bei der sie in Zürich Lavater aufsuchen: eine Strecke von insgesamt 400 Kilometern. Im April 1795 macht er sich, wie er schreibt, auf "eine kleine Fußreise" von Jena nach Halle, Dessau und Leipzig. In sieben Tagen legt er dabei etwa 210 Kilometer Luftlinie zurück. Und im Januar 1802 wandert er von Lyon aus über den verschneiten Nordhang der Auvergne nach Bordeaux: über 600 Kilometer in 19 Tagen. Seiner Mutter schreibt er dazu: "Überdieß hab' ich so viel erfahren, daß ich kaum noch reden kann davon. Diese letzten Tage bin ich schon in einem schönen Frühlinge gewandert, aber kurz zuvor, auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildniß, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette – da hab' ich auch ein Gebet gebetet, das bis jetzt das beste war in meinem Leben und das ich nie vergessen werde. Ich bin erhalten – danken Sie mit mir! Ihr Lieben! ich grüßt' euch wie ein Neugeborner, da ich aus den Lebensgefahren heraus war."

Nein, Hölderlin ist kein kränklicher, schwächlicher Mann, ebensowenig ist er aber auch der reine, keusche, impotente Poet, wie es ebenfalls dem Hölderlin-Klischee entspricht.

Im Frühjahr 1795 muss er die Hofmeisterstelle bei Charlotte von Kalb aufgeben, da er mit deren Gesellschafterin, Wilhelmine Kirms, ein Verhältnis hat, aus dem die Tochter Louise Agnese hervorgeht.

Und die größte Liebe seines Lebens, die Liebe zu Susette Gontard – eine platonische Liebe, wie so gerne angenommen wird? Der mit Hölderlin in engem Vertrauensverhältnis stehende Böhlendorff schreibt dazu: "Eine lehrte ihn ganz was Liebe sei." Bertaux' Kommentar mag genügen: "Wer da noch an eine ,platonische' Liebe, wie man es versteht, an einen amour de tête glauben will ... dem sei es nicht verwehrt."

Friedrich Hölderlin wird am 20. März 1770 in Lauffen geboren, wo sein Vater Heinrich Friedrich Hölderlin Klosterhofmeister ist. Bereits zwei Jahre später stirbt der Vater. 1774 geht die Mutter Johanna Christiane, geb. Heyn, mit dem Kammerrat und Bürgermeister Johann Christian Gock eine zweite Ehe ein. Die Familie zieht nach Nürtingen, doch bereits 1779 stirbt auch der zweite Ehemann. Von den sieben Kindern, die die Mutter zur Welt bringt, bleiben nur drei am Leben: Friedrich und Rike Hölderlin sowie deren Halbbruder Carl Gock.

Bereits früh hat die Mutter beschlossen, dass ihr Sohn Friedrich Pfarrer werden soll. Er besucht  zuerst die Lateinschule in Nürtingen, im Herbst 1784 wird er dann für zwei Jahre auf die niedere Klosterschule in Denkendorf geschickt, im Oktober 1786 tritt er in die höhere Klosterschule in Maulbronn ein, und wieder zwei Jahre später, im Oktober 1788, in das Tübinger Stift.

Die für Hölderlin so wichtigen Freundschaftsbünde bilden sich hier: dem ersten gehören Neuffer und Magenau an, und Hölderlin schreibt, beeinflusst von Schiller, die Tübinger Hymnen. Erste Gedichte werden im September 1791 in Stäudlins Musenalmanach für das Jahr 1792 veröffentlicht.

Der bedeutsamere Freundeskreis entsteht um 1790. Hölderlin schließt sich mit Hegel und dem fünf Jahre jüngeren Schelling zusammen, wobei vor allem der Umgang mit dem gleichaltrigen Hegel von großem, wechselseitigem Einfluss ist.

Noch andere Begegnungen aus der Tübinger Zeit werden wichtig. Ausgelöst durch die Französische Revolution entsteht im Stift ein revolutionär-patriotisch gesinnter Club, in dem Hegel als "derber Jakobiner" gilt; und auch Hölderlin ist "dieser Richtung zugetan." Friedrich Hiller gehört ihm an. Später lernt Hölderlin Isaac von Sinclair kennen, der Mitglied des Geheimbunds der Schwarzen Brüder ist und dessen Bestrebungen bereits zu dieser Zeit auf eine Revolution in Württemberg gerichtet sind.

Im Juni 1793 legt Hölderlin im Stift das Abschlussexamen der Promotion ab. Längst hat er sich dazu entschlossen, nicht länger "an der Galeere der Theologie zu seufzen", eine von der Mutter so sehnlich gewünschte Pfarrstelle nicht anzunehmen. Durch die Vermittlung Stäudlins empfiehlt Schiller der in Waltershausen bei Jena wohnenden Charlotte von Kalb Hölderlin als Hofmeister.

Das ganze Jahr 1794 verbringt Hölderlin in Waltershausen, die Erziehung von Charlottes Sohn gestaltet sich nicht ohne Probleme. Entscheidend für die Trennung vom Hause Kalb ist allerdings das bereits erwähnte Verhältnis mit Wilhelmine Kirms.

Hölderlin geht nach Jena, hört dort Fichte, besucht des öfteren Schiller und erneuert die Feundschaft mit Sinclair, in dessen Haus er wohnt.

Ende Mai 1795 bricht er in die Heimat auf. In Heidelberg macht er die Bekanntschaft des Arztes und Naturforschers Johann Gottfried Ebel, der ihm eine Hofmeisterstelle bei der Familie Gontard in Frankfurt vermittelt. Ende Dezember 1795 stellt sich Hölderlin dort vor. Was nun geschieht, gehört zu den Mysterien, die ihn und sein Werk umgeben.

Auf Zuraten Charlotte von Kalbs hat Hölderlin 1794 das Fragment von Hyperion, an dem er bereits in Tübingen gearbeitet hat, an Schiller geschickt, der es im November 1794 in der vorletzten Nummer der Thalia veröffentlicht. Die Kritik nimmt davon keine Notiz; ein Schweizer Bankierssohn, Ludwig Zeerleder, schreibt aber den Text ab und schickt ihn, als Ausdruck seiner Verehrung, an Susette Gontard.

Als Hölderlin die Stelle im Haus des wohlhabenden Bankiers Gontard antritt, ist er für dessen Ehefrau längst kein Unbekannter mehr. Und Hölderlin, verzaubert vom Wesen Susettes, erkennt in ihr sofort seine Diotima (die im Fragment noch Melite heißt). "Eh es eines von uns beeden wußte, gehörten wir uns an." Der Text hatte seine eigene Wirklichkeit gefunden.

Hölderlin liebte und wurde geliebt: "Ich bin in einer neuen Welt. Ich konnte wohl sonst glauben, ich wisse, was schön und gut sey, aber seit ich's sehe, möcht' ich lachen über all' mein Wissen. Lieber Freund! es giebt ein Wesen auf der Welt, woran mein Geist Jahrtausende verweilen kann und wird, und dann noch sehn, wie schülerhaft all unser Denken und Verstehn vor der Natur sich gegenüber findet. Lieblichkeit und Hoheit, und Ruh und Leben, u. Geist und Gemüth und Gestalt ist Ein seeliges Eins in diesem Wesen. Du kannst mir glauben, auf mein Wort, daß selten so etwas geahndet, und schwerlich wieder gefunden wird in dieser Welt."

Die Liebe war zum Scheitern verurteilt. Das geringste Problem dürfte dabei der Ehemann gewesen sein, denn die Ehe galt als eine konventionelle; der sich aristokratisch gebende Bankier geht seinen Geschäften nach; kleinbürgerliche Eifersucht, noch dazu auf einen Bedienten, als welchen er Hölderlin betrachtet, geziemt sich nicht für ihn. Doch Hölderlin verfügt nicht über die finanziellen Mittel, um Susette ein Leben an seiner Seite zu ermöglichen.

Im Juli 1796 flieht die Familie – Susette, ihre vier Kinder, zwei Verwandte, daneben Susettes Gouvernante und Hölderlin – vor den heranrückenden Franzosen nach Kassel, später geht es nach Bad Driburg. Der Ehemann bleibt in Frankfurt zurück. Hölderlin und Susette sind zwei glückliche Sommermonate vergönnt. In Wilhelm Heinse, dem Autor des Ardinghello, den sie in Kassel treffen, finden sie einen wohlwollenden und verständnisvollen Begleiter. Im Jahr darauf wird Hölderlin dichten:

"Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
[...] Einmal
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht."

Ende September erfolgt die Rückkehr nach Frankfurt. Im April 1797 erscheint der erste Band des Hyperion. Die Trennung vom Hause Gontard geschieht im September 1798. Natürlich klatscht man in Frankfurt, und nicht nur dort, über das Verhältnis der beiden; der eigentliche Anlass aber dürfte ein Missverständnis zwischen Gontard und Hölderlin gewesen sein.

Hölderlin verlässt überstürzt das Haus und geht auf Sinclairs Rat nach Homburg, um Susette nahe zu sein. Weiterhin tauschen sie Briefe aus, zuweilen treffen sie sich auch – heimlich. Die Trennung, obwohl auch von Hölderlin und Susette bereits seit langer Zeit in Erwägung gezogen,ist schmerzlich; Hölderlin stürzt in eine schwere Krise.

"Wohl geh' ich täglich andere Pfade, bald
Ins grüne Laub im Walde, zur Quelle bald,
Zum Felsen, wo die Rosen blühen
[...]
Du Holde, nirgend find ich im Lichte dich
Und in die Lüfte schwinden die Worte mir
[...]
Ja ferne bist du, seeliges Angesicht!
Und deines Lebens Wohllaut verhallt von mir
[...]
Leb immer wohl! es scheidet und kehrt zu dir
Die Seele jeden Tag, und es weint um dich
Das Auge"

Ende November begleitet Hölderlin Sinclair, der Vertreter der Landgrafschaft Homburg ist, zu einem Kongress in Rastatt. Er lernt dabei Baz und andere Gesinnungsgenossen kennen, die eine politische Umwälzung in Württemberg vorbereiten. Ihre Hoffnung, nach dem Modell der Helvetischen Republik eine Schwäbische Republik zu schaffen, wird endgültig im Frühjahr 1799 zerschlagen, als der französische General Jourdan in Stuttgart bekanntgibt, dass sich die französische Armee bei Unruhen auf die Seite des Herzogs von Württemberg schlagen werde. Zugleich schwindet damit Hölderlins Hoffnung, im Fall einer gelungenen Revolution, ähnlich wie Marie-Joseph Chénier in Frankreich, zum offiziellen Dichter der neuen Republik ernannt zu werden. An dem Stück, Empedokles, das als Festspiel dafür vorgesehen war, schreibt er bereits, doch im Sommer 1799 stellt er die Arbeit daran ein.

Auch ein zweiter Plan, sein Einkommen auf eine gesicherte Grundlage zu stellen, scheitert. Er plant, eine poetische Monatszeitschrift herauszugeben, doch seine Briefe an Goethe, Schiller, Schelling, Schlegel, Lafontaine, Herder u.a., in denen er um Beiträge bittet, kommen mit abschlägigen Antworten zurück.

Im Oktober 1799 erscheint der zweite Band des Hyperion.

Nachdem er dem Drängen seiner Mutter, ein Pfarramt zu übernehmen, weiterhin nicht nachkommen will, bleiben nur weitere Hofmeisterstellen. Im Januar 1801 tritt er eine Stelle bei Gonzenbach in Hauptwil in der Schweiz an, wo er aber nur drei Monate bleibt. Im Herbst desselben Jahres erhält er das Angebot, als Hofmeister beim hamburgischen Konsul und Weinhändler Meyer nach Bordeaux zu gehen.

Am 10. Dezember 1801 bricht er von Nürtingen auf, am 28. Januar 1802 trifft er in Bordeaux ein. Doch bereits am 10. Mai lässt er sich einen Pass nach Straßburg ausstellen, wo er am 7. Juni ankommt. Etwa vier Wochen später erscheint er völlig erschöpft und verstört bei seiner Mutter in Nürtingen.

Was in diesen vier Wochen geschehen ist, lässt sich nur mutmaßen. Hölderlin weiß von der Erkrankung Susettes, wahrscheinlich stellt sie den Grund für seinen überstürzten Aufbruch aus Bordeaux dar, und wahrscheinlich geht er in den fraglichen Wochen – Bertaux nimmt dies mit guten Gründen an – von Straßburg nach Frankfurt, wo er ihren vielleicht noch Tod miterlebt oder zumindest davon erfährt. Am 22. Juni ist Susette Gontard gestorben.

Hölderlin trauert. Er macht sich schwere Vorwürfe, glaubt sich – aufgrund der Trennung – mitschuldig am Tod Susettes, ist melancholisch und teilnahmslos gegenüber seiner Umwelt, zugleich stürzt er sich in Arbeit, übersetzt Sophokles und Pindar, "den ganzen Tag und die halbe Nacht." Sinclair schließlich gelingt es, ihn aus dem Haus der Mutter loszureißen. Über Stuttgart fahren sie im Juni 1804 nach Homburg, wo Hölderlin zum Hofbibliothekar ernannt wird. Hölderlins Gehalt zahlt Sinclair.

Im Februar 1805 wird Sinclair auf Antrag des Kurfürsten von Württemberg verhaftet. Gemeinsam mit Baz, Seckendorff und anderen wird gegen ihn ein Hochverratsprozess angestrengt. Die Ermittlungen gegen Hölderlin werden eingestellt, nachdem ein Gutachten des Homburger Arztes Müller Hölderlin Raserei attestiert.

Die Beziehung zu Sinclair, der mittlerweile zwar freigelassen, jedoch keineswegs entlastet ist, verschlechtert sich. Im August 1806 schreibt er Hölderlins Mutter, sie solle ihren Sohn, für den er nicht mehr sorgen könne, "entfernen." Am 11. September wird Hölderlin mit Gewalt von Homburg nach Tübingen geschafft, wo man ihn in das Authenriethsche Klinikum einliefert. Spätestens ab diesen Zeitpunkt gilt Hölderlin als wahnsinnig.

Nach sieben Monaten, die er in der Klinik verbringt, wird er, nachdem sich sein Zustand beruhigt hat, dem Schreinermeister Zimmer anvertraut. Von nun an wohnt Hölderlin, dem die Ärzte noch "höchstens drei Jahre" zu leben voraussagen, in Zimmers Haus am Neckar, im Turm, 35 Jahre lang.

Von den zahlreichen Gedichten, die in der ersten Zeit noch entstehen, sind die meisten verlorengegangen. Etwa fünfzig Gedichte aus den späteren Jahren sind überliefert. Hölderlin zieht sich zurück, in eine Stille, in der er seine Liebe und seinen Schmerz bewahrt. Am 7. Juni 1843 stirbt er, 73 Jahre alt.


ZUM WERK

"Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab."

Die pessimistische Vision menschlicher Bestimmung, die in der letzten Strophe von Hyperions berühmtem Schicksalslied heraufbeschworen wird, ist charakteristisch für eine Facette im Werk Friedrich Hölderlins; was hier über das gesamte Menschengeschlecht gesagt wird, findet, bezogen auf die persönliche Glückserwartung des einzelnen, eine Entsprechung im Gedicht Hälfte des Lebens, in welchem er das lyrische Ich ausrufen lässt: "Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / den Sonnenschein / und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen."

In beiden Fällen steht die zitierte letzte Strophe in erschütterndem Kontrast zum Vorangegangenen: hier das Bild der "holden Schwäne", die "trunken von Küssen" ihr "Haupt ins heilignüchterne Wasser" tunken, dort die Welt der Götter, die "droben im Licht" wandeln, "schicksallos", deren "selige Augen [...] in stiller ewiger Klarheit" blicken. Beherrschend ist in beiden Texten das Gefühl von Verlust, von Ausgeliefertsein und von Einsamkeit.

Dies ist ein zentrales Motiv Hölderlinscher Dichtung. Die reale Welt im Zeitalter gesellschaftlichen Umbruchs und naturwissenschaftlich-rationalistischer Expansion wird als Ort der Gottesferne erlebt, "Seit die gewurzelte / Ungestalte, die Furcht Götter und Menschen trennt" (Der Abschied, 2. Fassung). Ähnlich wie bei Schiller wird das antike Griechenland zum Zeitalter der Einheit von Natur und Kultur, Seele und Geist, Innen- und Außenwelt; doch während es bei letzterem überwiegend als ahistorischer, idealer Gegenentwurf fungiert, sieht Hölderlin darin – und hier kommt er den Romantikern nahe – eine untergegangene Epoche, zu der die Gegenwart keinen Zugang mehr hat: "Zu wild, zu bang ists ringsum, und es / Trümmert und wankt ja, wohin ich blicke" (Der Zeitgeist).

Allerdings wäre es verzerrend, Hölderlins Werk auf eine einzige Klage über den Zustand der Welt und die Isolierung des Subjekts zu reduzieren. Mag die Erfahrung von Leid eine wichtige, sicherlich konstitutive Rolle spielen, so ist sie doch nur ein Aspekt der Hölderlinschen Weltanschauung. Denn auch das Schicksalslied stellt innerhalb des Briefromans Hyperion oder der Eremit in Griechenland nicht den Endpunkt dar, sondern ist poetischer Ausdruck einer schmerzhaften Befindlichkeit, deren Überwindung – nicht nur in diesem Text – thematisiert wird. Hyperion, dessen politische Unternehmungen scheitern und dessen persönliches Glück durch den Tod Diotimas zerstört wird, findet in der All-Einheit der Natur Zuversicht und Geborgenheit: "Lebendige Töne sind wir, stimmen zusammen in deinem Wohllaut, Natur!" Dabei darf dies keineswegs als eskapistische Haltung verstanden werden, sondern als Resultat der Erweiterung seines Bewusstseins, das die umfassende, das Leid des Einzelnen aufhebende Macht eines ganzheitlich erlebten Kosmos erkennt.

"O du, so dacht ich, mit deinen Göttern, Natur! ich hab ihn ausgeträumt, von Menschendingen den Traum und sage, nur du lebst, und was die Friedenslosen erzwungen, erdacht, es schmilzt, wie Perlen von Wachs, hinweg von deinen Flammen!"

Und so wird die gewonnene Einsicht Hyperion nicht nur zum Trost, sondern zur Gewissheit einer über das Schicksalhaft-Leidvolle hinauswirkenden Harmonie der Welt:

"Schönheit der Welt! du unzerstörbare! du entzückende! mit deiner ewigen Jugend! du bist; was ist denn der Tod und alles Wehe der Menschen? – Ach! viel der leeren Worte haben die Wunderlichen gemacht. Geschiehet doch alles aus Lust, und endet doch alles mit Frieden.
Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder."

In späteren Texten hat Hölderlin diesen Prozess der Versöhnung, der auf individueller Ebene in vielen Gedichten angelegt ist – etwa in der Abendphantasie mit der Auflösung der Frage "warum schläft denn / Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?" durch die Schlusszeile "Friedlich und heiter ist dann das Alter" – zu einem geschichtsphilosophisch-religiösen Ansatz erweitert. Seine Elegie Brod und Wein stellt die Gegenwart, die symbolisch als Nacht gesetzt wird, als Ruhephase dar zwischen der alten, versunkenen Götterwelt und einem kommenden neuen Zeitalter, für das der letzte der Himmlischen, eine Bacchus-Christus-Gestalt, Brot und Wein als Zeichen und Pfand hinterlassen hat. Auch die Hymne Patmos spricht die Zuversicht in das Kommende aus: "Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch."

Hölderlins Wahrnehmung einer entgötterten Welt ist modern und archaisch zugleich. Modern in der radikalen Loslösung von tradierten theologischen Modellen und in der Überwindung rationalistischer Positionen, archaisch in der Rückwendung zum magischen Lebensgefühl längst vergangener Zeiten und in der Konzeption der Rolle des Dichters als priesterähnlicher Verkünder des Göttlichen.

"Was bleibet aber, stiften die Dichter" heißt die letzte Zeile der Hymne Andenken; Simon Dach hatte gut 150 Jahre vorher ein Gedicht mit den Worten abgeschlossen: "Es ist kein Reim, wofern ihn Geist vnd Leben schreibt, / Der vnß der Ewigkeit nicht eilends einverleibt" und sich damit auf die Ode des Horaz berufen Exegi monumentum aere perennius [Ich habe ein Denkmal geschaffen, das haltbarer ist als Erz]. Ging es hier um eine Überhöhung der Wirklichkeit durch Poesie, so hat sich die Richtung des Vorgangs im ausgehenden 18. Jahrhundert umgedreht: nicht die Kunst erhebt mehr ihren Gegenstand, sondern sie selbst wird zum Ausdruck der Verbindung zum Transzendenten. Goethe lässt seinen Tasso ausrufen: "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide." – Hölderlin geht noch weiter: die Aufgabe des Dichters ist es nicht, das persönliche oder allgemeine Leid auszudrücken, "denn es gilt ein anders", sagt er in der Ode Dichterberuf:

"Zu Sorg und Dienst den Dichtenden anvertraut!
Der Höchste, der ists, dem wir geeignet sind,
Daß näher, immerneu besungen,
Ihn die befreundete Brust vernehme."

Hölderlins Auffassung vom Dichtertum hat in der Titelfigur seines unvollendeten dramatischen Versuches Der Tod des Empedokles ihre wohl konsequenteste Ausformung gefunden. Der griechische Philosoph und Dichter Empedokles, der im 5. vorchristlichen Jahrhundert auf Sizilien lebt, auch als Priester und Arzt wirkt und als Volksführer an der Beseitigung der Oligarchie beteiligt ist, gibt die ideale Vorlage für Hölderlins Darstellung der Dichter-Problematik ab. Seine dunklen, der orphischen Mystik verbundenen Schriften enthalten Elemente von unübersehbarer Affinität mit Hölderlins Denken; seinen legendären Freitod in den Flammen des Ätna sieht der spätgeborene Geistesverwandte nicht als Akt der Verzweiflung, sondern als Vollzug der Wiedervereinigung, also auch der Versöhnung mit dem Göttlichen: der Natur.

Hölderlin hat in seiner Dichtung eine poetologische Diskussion vorweggenommen, die sich erst hundert Jahre später voll entfalten soll und bis in unsere Tage nicht abgeschlossen ist. Er, der vielleicht am radikalsten mit dem gegebenen Sprachmaterial umgegangen ist, fühlt mit der Sensibilität des Genies das Zwiespältige im Wesen der Sprache, die als Poesie die Verbindung zum Göttlichen herstellt, im alltäglichen Gebrauch aber zum bloßen Kommunikationsmedium verkommt, zerschlissen und letztlich banal wird. Das späte Fragment Im Walde enthält den Satz "[...] und darum ist der Güter Gefährlichstes, die Sprache, dem Menschen gegeben, damit er schaffend, zerstörend [...] zeuge, was er sei." Stéphane Mallarmé hat sein gesamtes Schaffen als Ringen um die poésie pure verstanden, um eine Dichtung, deren angestrebte Reinheit nicht Weltabgewandtheit, sondern Rückkehr zum magischen Ursprung der Sprache sein sollte – und hat das notwendige Scheitern dieses Versuchs als Bestimmung des Dichters angesehen.

Paul Celan hat, wie vielleicht kein anderer, die volle Tragweite der Problematik erkannt und in seine Lyrik aufgenommen. Es ist kein Zufall, dass sein Werk von der Auseinandersetzung mit Mallarmé geprägt ist und dass er Friedrich Hölderlin mit einem der beeindruckendsten Gedichte des 20. Jahrhunderts ein poetisches Denkmal gesetzt hat: Tübingen, Jänner, das mit einem Zitat aus Hölderlins Privatsprache aus der Zeit der geistigen Umnachtung endet: "Pallaksch. Pallaksch."

Wie immer Hölderlins Geisteszustand in den letzten vier Jahrzehnten seines Lebens bewertet werden mag – das Wenige, das der "Mit Untertänigkeit Scardanelli" Unterzeichnende aus dieser Zeit hinterlassen hat, kann nicht außerhalb des Zusammenhangs seines Gesamtwerkes gestellt werden. Auffallend sind die distanzierte, völlig unpathetische Grundstimmung und die Beschränktheit auf reine Naturbeschreibung, die auf seltsame Weise an japanische Haiku-Kunst erinnert. Hinzu kommt die Tendenz, die erblickte Landschaft als Dekor, als Gemachtes zu deuten: "Des Feldes Grün ist prächtig ausgebreitet", "Der Erde Rund mit Felsen ausgezieret" – was in Hölderlin wirklich vorgegangen ist, werden wir zwar nie erfahren, doch die Gelassenheit der späten Texte vermittelt die Ahnung, dass eine Versöhnung stattgefunden haben muss, die mit den Mitteln der Ratio nicht nachvollziehbar ist. Eine Spur des zurückgelegten Weges lässt sich indes sehr wohl verfolgen:

"Die prächtige Erscheinung ist, die Luft ist feiner,
Der Wald ist hell, es geht der Menschen keiner
Auf Straßen, die zu sehr entlegen sind, die Stille machet
Erhabenheit, wie dennoch alles lachet."